LESEPROBE


„… Das Seitental des Rebland-Vorortes, in dem wir wohnten, lehnte sich in der zirpenden Klarheit dieses unschlüssig vor sich hin dümpelnden Sommernachmittags des Jahres 1974 zufrieden in die sanften Hügel des auslaufenden Schwarzwaldes. Die Stunden verstrichen zäh. Alles brauchte seine Zeit und noch wies nichts auf den bevorstehenden Wandel oder kündete gar vom Aufbruch einer ganzen Generation. Ein normaler Nachmittag, an dem normale Menschen normale Dinge verrichteten.
In einem wurmstichigen Stall am Ende der Hauptstraße entlud sich der debile, sechzehnjährige Sohn eines im Dorf angesehenen Bauern gerade mit wässrigem Blick in sein hingebungsvoll blökendes Lieblingsschaf. Bäcker Nerf walkte mit seinen kräftigen, sinnlichen Händen erst den Hefeteig für die allseits beliebten Puddingteilchen, dann, in einer dunklen Ecke der Backstube, seine dralle Tochter. Und der stets durch die Lücken zwischen seinen fauligen Zähnen spuckende Dorfpfarrer mit seinen hinter Fensterglas-dicken Brillengläsern Wagenradgroßen Augen nahm, wie jeden Mittwoch, den Knaben in der Sakristei mit zudringlicher Hingabe und gezügelten Züchtigungen, zunächst von hinten die Beichte, dann von vorne ein Versprechen ab.
Vielleicht war es das kollektive Schweigen, das jeder in diesem döflichen Idyll wie eine Monstranz vor sich hertrug, was aus mir einen rebellischen jungen Mann machte, hungrig nach Veränderung im Mysterium Welt.
In jedem Fall aber war es die üppige, moschusschwere Lustgartenarchitektur des Kurortes Baden-Baden, die pralles Verlangen in mir auslöste und mich gleichzeitig in ihrer morbiden Schönheit erstarren ließ: eine in Stein gegossene Lähmung des Lebens.
Dem hohen Anteil an Millionärswitwen in diesem Kurort waren die Männer, vielleicht ein General a.D. oder ein Großindustrieller aus dem Ruhrgebiet, einfach zu früh weggestorben. Und so verschleuderten diese vom Tod zurückgelassenen Damen die ihnen verbliebene Zeit mit dem vermeintlichen Erhalt ihrer längst veflossenen Schönheit und der ruhelosen Suche nach immer neuen, extravaganten und Jugendlichkeit vortäuschenden Moden. Dabei galt und gilt noch heute: je älter die Dame, desto knalliger die Farben, ausladender die Hüte und zirkusartiger die Stoffzusammenstellungen. So ausstaffiert flanierten sie (denn hier wurde schon immer flaniert, nicht spaziert) pfauenhaft staksend durch die Parkanlagen und Straßen, Caféhäuser und Trinkhallen, das Kasino und die Kunstgalerien.
Und um die uralten Häuserecken strichen ihre tief violetten Parfumschleier und sangen die Litanei von der ewigen Suche nach dem Jungbrunnen – morbide Gesänge, olfaktorische Dreiklänge in Moll.
Hätte Jugend in dieser Kleinstadt eine Lobby gehabt, wären die Auftritte dieser papageienhaft gewandeten, reifen Frauen im besten Falle belächelt worden. Aber jung waren hier nur die Autobahn und die Lakaien: die Croupiers des ach so traditionsreichen Kasinos und die Knaben, die in den Thermalbädern, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, lüstern grunzendem Wellfleisch Aufgüsse und Wasseranwendungen verabreichten. Weil also der Großteil der Bevölkerung schlicht alt war und die ständige Erinnerung an tatsächliche Jugend ja letztlich nur schmerzt, blieb das Alter einfach unter sich und feierte seine ewige Jugend in ungeschriebenen Ritualen. Und es gab niemanden, der dieses Idyll kollektiven Selbstbetrugs hätte stören können.
Doch so sehr diese Stadt auch eine Enklave, also eine in sich geschlossene Kapsel, für das reife Alter darstellte, stellte sie auch eine Enklave für uns wenige Junge dar. Vielleicht weniger eine Enklave als eine frühe Form der „Trumanshow“, diese von Filmproduzenten geschaffene Scheinwelt, ein mentales Gefängnis ohne Ketten – mit Fesseln aus Schönheit und dem trügerischen Glanz einer Welt, in der es nur Erfolg aus dem Nichts zu geben schien, als wäre Reichtum einfach ein zwingendes Attribut, das nie hinterfragt werden muss, ein Axiom des Lebens: So wunderbar, so simpel, so tödlich für ein junges Herz. Diese Stadt war für uns ein Honigtopf der Perspektivlosigkeit, in dem man, einmal hineingefallen, umso tiefer sank, je mehr man strampelnd versuchte herauszukommen. Allein fünf Freunde meiner ersten Clique aus der Schulzeit hat dieser Honigtopf das Leben gekostet. Sie waren erstickt, hatten keinen Halt gefunden, keinen Weg aus dieser zähen Masse: mit einem goldenen Schuss, der – ganz anders als bei Wilhelm Tell – daneben ging, durch einen haltlos schlechten Zug der Bahn, der nur stückhafte Erinnerungen hinterließ, durch ein nicht nur emotionales Hängenbleiben am Fensterkreuz des Südens, als Lebensziel für ein Stück Blei, das bohrende Fragen in den Kopf drehte und als kulinarischer Höhepunkt für eine Hand voll Nager. Alle hatten sie sich für einen außerordentlich finalen Weg aus dem großen, klebrigen Honigtopf entschieden …“

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Buch-Infos

Belletristik: Roman
Taschenbuch: 228 Seiten
Verlag: Books on Demand; Auflage: 1 (2011)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3744897311
ISBN-13: 978-3744897310
Preis: 9,99 Euro

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